nietzsche gedenkrede
Dr. Ernst Horneffer, Nietzsche-Vorträge,
Am Grabe Nietzsches werden viele Stimmen laut werden. Denn schon ist die Stunde
gekommen, wo sein Wort auch die Fernsten erreicht hat, wo er jede Seele zum Erklingen
gebracht hat, daß sie irgendwie tönt. Und so werden sie auch bei diesem Ereignis sich so
oder so vernehmen lassen.
Wenn ich in diesem stillen ernsten Hause, wo dieser Große verlosch, an seinem Sarge ein
Wort zu sprechen von denen, die ihm am nächsten standen, aufgefordert bin, so kann ich
auch meinerseits es nur so tun, daß ich sage, wie ich hier empfinde. So allein ist es im
Sinne des Toten. Es kann nicht ausbleiben, daß in meinen Worten die Stimmung, einer
gewissen Jugend von heute, eines Gliedes in der Kette der Geschlechter sich ausdrückt.
Und mehr noch, selbst meine allerpersönlichsten Empfindungen darf ich in diesem
Augenblick nicht verleugnen, soll, was ich sage, nicht farblos und nichtig werden. Und
so, meinem Gefühl folgend, mit der Wahrheit, die mir diese heilige Stunde zur Pflicht
macht, sage ich: am Grabe dieses Mannes ist jede Klage verboten.
Mögen die, die ihm menschlich nahe standen, denen er von Jugend auf durch natürliche
Bande oder lange Jahre durch Bande der Freundschaft angehört hatte, mögen sie in
Erinnerung an sein lebendiges Bild, ein Bild voller Heimlichkeiten, Zartheiten,
weihevoller Schönheiten und hehrer Größen, ihrem Schmerz Ausdruck leihen. Wir ehren
diesen Schmerz. Sie verlieren endgültig, letztgültig ein Unendliches, etwas, dessen Wert
von uns Ausgeschlossenen keiner ermessen wird. Aber wir, die wir ihn als Menschen
nicht mehr kennen sollten, die wir ihm so nahe gekommen sind, bis dicht an die Pforte –
auf dieser Pforte aber prallt uns entgegen: Unmöglichkeit – wir, die wir nur sein geistiges
Erbe noch fassen konnten, wir dürfen nicht klagen. Alles Klagen ist leicht ein Beklagen,
und wer sind wir, daß wir dieses Leben beklagen dürften! O nein, dieser Mann verbittet
sich unser Mitleid! jedes Mitleid, das wir Kleinen, Kurzlebigen, Heutigen diesem Leben
darbringen, macht uns verächtlich. Dieser Mann ist zu stolz, als daß er je von irgendwem
beklagt werden möchte. Ist er doch der große Jasager, der auch züi seinem Leben ja sagt,
der es nicht geändert wissen will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, bis in alle Ewigkeit
nicht. Und da sollten wir weinen und klagen?
Betrachten wir sein Leben. Frühzeitig, wider alle Erwartung schnell erkennt man ihn als
selten bedeutend. Wider allen Brauch überträgt man ihm geachtete Stellungen, ehe er
noch seine Vorbereitung geendet. Man wartet nicht, bis er sich um Ehren bewirbt, man
schickt sie ihm aus eigenem Antriebe zu. Und seine ersten Schriften wirken. Ein
Freundeskreis umgibt zustimmend, ja jubelnd den jungen Denker, der auch hier schon
Töne eines Propheten anschlägt. Und mehr als dies: das Schicksal führt ihn jenem großen
Künstler zu, dessen Bild damals wie heute seltsam in der Parteien Gunst und Ungunst
schwankte, dem man aber wohl nie den Namen eines großen Künstlers wird rauben
können. Ich glaube, es ist im Sinne Nietzsches, wenn ich hier Richard Wagner erwähne.
Durch dies Verhältnis fiel ein seltsamer Glanz in seine Jugend. So lernte er doch einmal
aus vollem Herzen kennen, was er später verlernen mußte: verehren. Welch Gefühl für
ihn, da in seinem späteren Leben es nichts mehr gab, das er verehren konnte, da er immer
mehr unter sich fühlte!
Aber dann kam freilich alles anders. Die große äußere Laufbahn, die man nach seinen
ersten Erfolgen voraussah, mußte ausbleiben. Und die Freunde wurden ihm fremder und
fremder. Wer hätte ihm auch folgen sollen, als er seinen Weg einschlug? Das
Entscheidende aber war: – das Verhältnis zu Richard Wagner zerbrach. So wurde er der
ganz Einsame. Aber ich frage: waren diese Opfer nicht notwendig? Hat er sie nicht selber
gewollt? Wie hätte er die
Freiheit zu seinem Werk finden sollen – und zu keinem Werk bedurfte es größerer
Freiheit! – wenn er nicht jede Brücke hinter sich abgebrochen hätte? So sehen wir ihn
von nun an ein unstätes Wanderleben führen, in den höchsten Bergen und unter den
Denkmälern einer alten Kultur. Ein wundersamer Anblick, wie er so, auch der letzten
Fessel entledigt, in einem Meer von Freiheit, sein Werk schafft. Es ist kaum erfindlich, in
unsern gedrückten, eng gepreßten Tagen dieses Übermaß von Freiheit! Als so ein
königlicher prachtvoller Einsiedler des Geistes lebte er, wie sie nach seinem Urteil sonst
unsern Zeiten so ganz abgehen. Für alle Zeiten wurde sein Leben die große Schule der
Unabhängigkeit.
Und was wurde er in dieser Zeit? Er wurde der forschendste, grabendste Geist, der bis in
die verborgensten Winkel hinabstieg; er wurde der schaffendste Geist, bei dessen
Schaffen nicht nur Funken und Splitter, nein, Blöcke stoben; er wurde der feinfühligste
Geist, der jedes leise Erzittern der menschlichen Seele erhorchte, erriet und selbst in
unserer schweren Sprache noch ausdrückte; und vor allem: er wurde das Genie des
Herzens, das jeden Widerstand lähmt, der große Bestricker und Bezauberer aller, dem
jeder, wenn er nur erst einmal seine Stimme gehört hat, für immer verfallen ist. Und so
schuf er Werk auf Werk. Immer höher stieg er hinauf, immer eilender, bis auf den
höchsten Gipfel, wo er sich eben anschickte, eine letzte große Umschau zu halten: – da
traf ihn der Blitz.
Wenn man aber dies stolze Leben bewundert und segnet, vielleicht sieht man in diesem
jähen Zusammenbruch gerade zur entscheidenden Stunde etwas, das ewiger Klage wert
wäre. Ich verstehe das wohl und doch frag ich auch hier: will man noch mehr haben? Erst
wollten wir seine Schätze nicht annehmen und nun können wir nicht genug haben. Ich
meine, dieser Mann grub Gold, schüttete Gold aus, genug, um jeden Geiz zu befriedigen.
Vielleicht liegt gerade mir diese Auffassung nahe, der ich das Glück habe, in seinen
hinterlassenen Papieren zu arbeiten. Sieht man da erst die ganze Fülle seines Schaffens
und wie sehr, zumal in den letzten Jahren, seine Werke, die in aller Händen sind, nur
Bruchstücke sind von dem Gesamtbau, den er aufgeführt hat, da fragt man sich
allerdings: war ein Mehreres überhaupt möglich?
Und schließlich dieser Tod. Nietzsche fragt einmal, ob er an seinem Sturme zugrunde
gehen werde oder verlöschen wie ein Licht. Es hat sich beides erfüllt. Erst ging er an
seinem Sturme zugrunde und dann verlosch er wie ein Licht. Auch dieser doppelte Tod
kann viel bedeuten, kann, wenn man will, seinen Sinn haben. Nietzsche konnte die
Menschheit entbehren; es fragt sich nur, ob die Menschheit Nietzsche entbehren konnte.
Es ist, als ob Nietzsche mit der Art seines Sterbens eine furchtbare Strafe habe verhängen
wollen. Eben als er auf seinem letzten Gipfel war, als es nun nicht mehr lange währen
konnte, daß er erkannt wurde, da schied er dahin; aber nicht ganz! Ein Rest von ihm
verblieb noch, genug, um uns zu lehren, was wir uns hatten entgehen lassen! Wir sahen
ihn noch, dies Haupt voll Hoheit, voll königlichem Stolz, von dem weich und voll das
Haar herabfiel. Wie aus Urzeiten der Menschheit war hier ein Weiser wieder aufgetaucht.
So weckte er Sehnsucht und Sehnsucht. je mehr er hinschwand, um so lebendiger ward
er. Das ist von diesem Tode zu sagen: um Tote soll man klagen und nicht um Lebendige.
Dieser Mann, der hier im Sarge liegt, der ist nicht tot: wir, die wir ihn umstehen, wir sind
Schatten, leichenfahle Schemen gegen das üppige Leben, das hier im Sarge blüht. Es gab
nie einen lebendigeren Toten! Und dieser sieghafte Gedanke, glaube ich, könnte Trost
bringen auch in das bekümmertste Herz, in eine Schwesterseele, die ihres Lebens ganzen
Inhalt in der sorgenden Gemeinschaft mit dem Verstorbenen sah. Es ist keine Nacht die
mit diesem Tode hereinbricht, wie bei anderen Menschen; es ist ein Morgen, ein neuer
Tag. Unendliche Morgenröten sehen wir aufleuchten. Wie alles in ihrem Lichte gebadet
liegt! Spüren wir es nicht? Ich glaube zu sehen, wie der Tote sich aufrichtet, wie er hoch
aufsteht – und zu seinen Füßen stürzt sich eine Welt.
Nicht als ob wir glaubten, wir könnten schon heute seinen Wert ermessen. Kein Wissen
haben wir von ihm. Es ist, als ob wir an einem Meere ständen; die Wellen schlagen an
unser Ohr; aber seine Weite ahnen wir nicht. Nur wissen wir, daß Nietzsche kommt;
immer näher kommt er, immer höher; es gibt keine Rettung; Nietzsche wächst. Hören wir
nicht die Geister, die er ausschickte, über uns in den Lüften schwirren? Sie sind nahe, die
gefährlichen, unheimlichen, aber erquickenden, aber herzstärkenden Tauwinde, die er
ankündigt. Warten wir nur: – um ein Kleines, und alles alte Eis bricht.
Wir klagen an diesem Sarge nicht. Nicht daß wir nicht wüßten, daß dieses Leben das
leidvollste war. ja, ich wage zu behaupten, dieser Mann, der das höchste Glück brachte,
so daß es eine Menschheit nicht ausschöpft, war selbst wohl der unglücklichste Mann,
den je die Erde getragen hat. Er kannte die Schmerzen, wie sie noch keiner auf Erden
gekannt hat, Schmerzen des Leibes und Schmerzen der Seele, gleichsam als wollte das
Schicksal an ihm selbst Rache nehmen, ein für allemal Rache für alte Freude, die von
ihm ausgehen wird, als wenn es ihm um diesen Preis nur gestattet hätte, seinen
Glücksborn zu öffnen. Wir wissen, alles, was Nietzsche leistete, leistete er, wie er sagt,
»trotzdem«. – Wenn wir hier des Abends, wenn die Sonne tiefer geht, in seinen Heften
mit seinen ewigen Schriftzügen blättern, und uns da ein Schreiben in die Hände fällt, ein
Brief an einen Jugendfreund, aus seiner Einsamkeit, seiner Höhle, wie er sagt,
herausgeschrieben, und wenn er da den Freund bittet, seine Kinder in seinem Namen zu
streicheln, und er dann gleichsam in Vorahnung seines Geschicks über sich Wehe! ruft:
wie? wenn er diese Einsamkeit einmal nicht mehr ertrüge! schon müsse er Musik
brauchen wie Saul, um sich aufrecht zu halten; zum Glück habe ihm das Geschick auch
einen treuen David bescheert: – es gibt Töne bei Nietzsche, die auch das härteste Herz
spalten. Und dennoch! Das Aufsuchen der düstersten, fragwürdigsten Seiten des Lebens
ohne Zittern lehrt Nietzsche, das Jasagen auch zu den fremdesten, unerfindlichsten
Schicksalen. Wohlan! Beweisen wir Nietzsches Lehre an ihm selbst zuerst! Hier ist ein
fremdartiges Schicksal. Hier vor uns im Sarge liegt Friedrich Nietzsche, der ausgezogen
war, um wiederzukehren, der selbst seine Lehre noch hatte künden wollen, der flehend zu
seinem Schicksal gesprochen hatte: spare mich auf zu einem großen Siege.
Vergegenwärtigen wir es uns ganz – aber klagen wir nicht.
Zu Zarathustra kommen die Vertreter der Menschheit, um ihn zu versuchen; sie wollen
ihn zu seiner letzten Sünde verführen, zum Mitleiden mit dem höheren Menschen. Ist es
nicht, als ob das Blatt sich gewendet hätte, als ob jetzt Nietzsche zur Menschheit käme,
als ob er mit seinem Leben und Schicksal die Menschheit versuchen wollte, sie zu ihrer
letzten Sünde verführen, zum Mitleiden mit dem höchsten Menschen? Daß sein Los, das
Schmerzliche seines Loses derartig ist, daß an ihm, wenn es fortgepflanzt von Geschlecht
zu Geschlecht immerfort wächst, schließlich eine Menschheit zerbrechen könnte,
bezweifle ich nicht. Es gab in der Menschengeschichte keine größere Tragik. Nietzsches
Leben und Schicksal wird ewig der Prüfstein seiner Lehre sein. Aber darum wohlan!
Halten wir Stand! Der große Mittag bricht niemals an, wenn wir nicht diese erste Probe
bestehen – und nach uns alle Geschlechter. Ich weiß, meine Rede klingt seltsam. Aber
nur dann wird dies große Werk nicht vergeblich sein, wenn wir zu dieser Losung uns
aufschwingen. Ich rufe als Zoll meiner Dankbarkeit, als Gelübde für jetzt und die
Zukunft über das Grab Friedrich Nietzsches, des unzeitigst gestorbenen, die Worte: amor
fati!
»Höchstes Gestirn des Seins!
Ewiger Bildwerke Tafel!
Du kommst zu mir? –
Was keiner erschaut hat,
deine stumme Schönheit –
wie? sie flieht vor meinen Blicken nicht?
Schild der Notwendigkeit!
Ewiger Bildwerke Tafel!
– aber du weißt es ja:
was alle hassen, was allein ich liebe,
daß du ewig bist!
daß du notwendig bist!
Meine Liebe entzündet
sich ewig nur an der Notwendigkeit.
Schild der Notwendigkeit!
Höchstes Gestirn des Seins!
– das kein Wunsch erreicht,
das kein Nein befleckt,
ewiges Ja des Seins,
ewig bin ich dein Ja:
denn ich liebe dich, o Ewigkeit.«