Armseligkeit (Meister Eckhart)
[102] Die Seligkeit tat ihren Mund der Weisheit auf und sprach: »Selig sind die
Armen des Geistes, das Himmelreich ist ihrer.« Alle Engel und alle Heiligen und alles
was je geboren ward, muss schweigen, wenn diese ewige Weisheit des Vaters spricht;
denn alle Weisheit der Engel und aller Kreaturen ist lauter nichts vor der Weisheit
Gottes, die grundlos ist. Diese Weisheit hat gesagt, dass die Armen selig seien. Nun
gibt es zweierlei Armut. Die eine ist eine äusserliche Armut und die ist gut und ist sehr
an dem Menschen zu loben, der es mit Willen tut unserm Herrn Jesus Christus zulieb,
weil er sie selber auf Erden geübt hat. Von dieser Armut will ich nichts weiter sagen.
Aber es gibt noch eine andere Armut, eine inwendige Armut, von der dies Wort
unseres Herrn zu verstehn ist, das er sagt: »Selig sind die Armen des Geistes oder an
Geist.« [103] Nun bitte ich euch, ihr möchtet so sein, dass ihr diese Rede versteht,
denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit, wenn ihr der Wahrheit, von der wir jetzt
reden, nicht gewachsen seid, so könnt ihr mich nicht verstehen. Etliche Leute haben
mich gefragt, was Armut sei? Darauf wollen wir antworten.
Bischof Albrecht sagt, der sei ein armer Mensch, dem alle Dinge, die Gott je schuf,
nicht Genüge tun, und das ist gut gesagt. Aber wir sagen es noch besser und nehmen
Armut in einem höheren Sinne. Das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts
weiss und nichts hat. Von diesen drei Punkten will ich sprechen.
Zum ersten also heisst der ein armer Mensch, der nichts will. Diesen Sinn verstehn
etliche Leute nicht recht; das sind die Leute, die peinlich an Pönitenzien und
äusserlichen Bussübungen festhalten (dass die Leute in grossem Ansehen stehen, das
erbarme Gott!) und sie erkennen doch so wenig von der göttlichen Wahrheit. Diese
Menschen heissen heilig nach dem äussern Ansehen, aber von innen sind sie Esel,
denn sie verstehen es nicht, die göttliche Wahrheit zu unterscheiden. Diese Menschen
sagen, der sei ein armer Mensch, der nichts will. Das deuten sie so, der Mensch solle
so sein, dass er an keinen Dingen seinen Willen mehr erfülle, vielmehr danach trachten
[104] solle, dem allerliebsten Willen Gottes zu folgen. Diese Menschen sind nicht
übel daran, denn ihre Absicht ist gut; darum sollen wir sie loben; Gott und seine
Barmherzigkeit erhalte sie. Aber ich sage mit guter Wahrheit, dass sie keine armen
Menschen und nicht armen Menschen gleichzustellen sind. Sie sind in der Leute
Augen gross geachtet, die sich auf nichts Besseres verstehen. Doch sage ich, dass sie
Esel sind, die von göttlicher Wahrheit nichts verstehn. Mit ihren guten Absichten
können sie vielleicht das Himmelreich erlangen, aber von dieser Armut, von der ich jetzt
künden will, von der wissen sie nichts.
Wenn mich nun einer fragt, was denn ein armer Mensch sei, der nichts will, so
antworte ich und spreche so. Solange der Mensch das hat, was in seinem Willen ist,
und solange sein Wille ist, den allerliebsten Willen Gottes zu erfüllen, der Mensch hat
nicht die Armut, von der wir sprechen wollen, denn dieser Mensch hat einen Willen,
mit dem er dem Willen Gottes genug tun will, und das ist nicht das rechte. Denn will
der Mensch wirklich arm sein, so soll er seines geschaffenen Willens so entledigt sein,
wie er war als er nicht war. Und ich sage euch bei der ewigen Wahrheit, solange ihr
den Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen und irgend nach der Ewigkeit und nach
Gott begehret, so lange seid ihr [105] nicht richtig arm; denn das ist ein armer
Mensch, der nichts will und nichts erkennt und nichts begehrt.
Als ich in meiner ersten Ursache stand, da hatte ich keinen Gott und gehörte mir selbst;
ich wollte nichts, ich begehrte nichts, denn ich war ein blosses Sein und ein Erkenner
meiner selbst nach göttlicher Wahrheit; da wollte ich mich selbst und wollte kein
anderes Ding; was ich wollte, das war ich, und was ich war, das wollte ich, und hier
stand ich ledig Gottes und aller Dinge. Aber als ich aus meinem freien Willen
hinausging und mein geschaffenes Wesen empfing, da bekam ich einen Gott; denn als
keine Kreaturen waren, da war Gott nicht Gott; er war was er war. Als die Kreaturen
wurden und ihr geschaffenes Wesen anfingen, da war Gott nicht in sich selbst Gott,
sondern in den Kreaturen war er Gott. Nun sagen wir, dass Gott danach dass er Gott
ist, nicht ein vollendetes Ziel der Kreatur ist und nicht so grosse Fülle, als die
geringste Kreatur in Gott hat. Und gäbe es das, dass eine Fliege Vernunft hätte und
vernünftig den ewigen Abgrund göttlichen Wesens, aus dem sie gekommen ist, suchen
könnte, so sagen wir, dass Gott mit alledem, was Gott ist, die Fliege nicht ausfüllen
und ihr nicht genug tun könnte. Deshalb bitten wir darum, dass wir Gottes entledigt
[106] werden und die Wahrheit vernehmen und der Ewigkeit teilhaft werden, wo die
obersten Engel und die Seelen in gleicher Weise in dem sind, wo ich stand und wollte
was ich war, und war was ich wollte. So soll der Mensch arm sein des Willens und so
wenig wollen und begehren wie er wollte und begehrte, als er nicht war. Und in dieser
Weise ist der Mensch arm, der nichts will.
Zum zweiten ist der ein armer Mensch, der nichts weiss. Wir haben manchmal gesagt,
der Mensch sollte so leben als ob er nicht lebte, weder sich selbst noch der Wahrheit
noch Gott. Aber jetzt sagen wir es anders und wollen ferner sagen, dass der Mensch,
der diese Armut haben soll, alles haben soll, was er war als er nicht lebte, in keiner
Weise lebte, weder sich, noch der Wahrheit, noch Gott, er soll vielmehr alles Wissens
so quitt und ledig sein, dass selbst nicht Erkennen Gottes in ihm lebendig ist; denn als
der Mensch in der ewigen Art Gottes stand, da lebte in ihm nichts anderes: was da
lebte, das war er selbst. Daher sagen wir, dass der Mensch so seines eigenen
Wissens entledigt sein soll, wie er war als er nicht war, und Gott wirken lasse, was er
wolle, und frei dastehe, als wie er von Gott kam.
Nun ist die Frage, wovon allermeist die Seelheit abhänge? Etliche Meister haben
gesagt, es komme auf das Begehren an. Andere sagen, es [107] komme auf
Erkenntnis und auf Begehren an. Aber wir sagen, sie hänge nicht von der Erkenntnis
noch von dem Begehren ab, sondern es ist ein Etwas in der Seele, aus dem fliesst
Erkenntnis und Begehren, das erkennt selbst nicht und begehrt nicht so wie die Kräfte
der Seele. Wer dies erkennt, der erkennt, wovon die Seelheit abhänge. Dies Etwas hat
weder vor noch nach und es wartet nicht auf etwas Hinzukommendes, denn es kann
weder gewinnen noch verlieren. Darum ist ihm jegliche Möglichkeit ganz und gar
benommen, in sich zu wirken, es ist vielmehr immer dasselbe Selbe, das sich selbst in
der Weise Gottes verzehrt. So, meine ich, soll der Mensch quitt und ledig dastehen,
dass er nicht weiss noch erkennt, was Gott in ihm wirkt, und dann kann der Mensch
Armut sein eigen nennen. Die Meister sagen, Gott sei Wesen und zwar ein
vernünftiges Wesen und erkenne alle Dinge. Aber ich sage: Gott ist weder Wesen,
noch Vernunft, noch erkennt er etwas, nicht dies und nicht das. Darum ist Gott aller
Dinge entledigt, und darum ist er alle Dinge. Wer nun des Geistes arm sein will, der
muss alles seinen eigenen Wissens arm sein, als einer, der nichts weiss und kein
Ding, weder Gott, noch Kreatur, noch sich selbst. Dagegen ist es nicht so, dass der
Mensch begehren solle, den Weg Gottes zu wissen oder zu erkennen. [108] In der
Weise, wie ich gesagt habe, kann der Mensch arm sein seines eigenen Wissens.
Zum dritten ist der ein armer Mensch, der nichts hat. Viele Menschen haben gesagt,
das sei Vollkommenheit, dass man nichts von den leiblichen Dingen dieser Erde hat,
und das ist in einem gewissen Sinne schon wahr, wenn einer es mit Willen tut. Aber
dies ist nicht der Sinn, den ich meine, Ich habe vorhin gesagt, der sei ein armer
Mensch, der nicht den Willen Gottes erfüllen will, sondern so leben will, dass er
seines eigenen Willens und des Willens Gottes so entledigt sei, wie er war als er nicht
war. Von dieser Armut sagen wir, dass sie die ursprünglichste Armut sei. Zweitens
sagen wir, das sei ein armer Mensch, der die Werke Gottes in sich selber nicht kennt.
Wer so des Wissens und Erkennens ledig steht, wie Gott aller Dinge ledig steht, das
ist die offenbarste Armut. Aber die dritte Armut, von der ich sprechen will, das ist die
tiefste, nämlich dass der Mensch nichts hat.
Nun gebt ernstlich acht; ich habe oft gesagt, und es sagen es auch grosse Meister, der
Mensch solle aller Dinge und aller Werke, sowohl innerlich wie äusserlich, so entledigt
sein, dass er eine Eigenstätte Gottes sein könne, worin Gott wirken könne. Jetzt aber
künden wir es anders. Steht die Sache so, dass der Mensch aller Dinge ledig [109]
steht, aller Kreaturen und seiner selbst und Gottes, und ist es noch so in ihm bestellt,
dass Gott eine Stätte in ihm zu wirken findet, so sagen wir: solange das in dem
Menschen ist, ist der Mensch nicht arm in der tiefsten Armut, denn Gott ist nicht der
Meinung mit seinen Werken, der Mensch solle eine Stätte in sich haben, worin Gott
wirken könne, sondern das ist eine Armut des Geistes, dass der Mensch Gottes und
aller seiner Werke so ledig steht, dass Gott, wenn er in der Seele wirken will, selbst
die Stätte sei, worin er wirken will, und das tut er gerne. Denn findet Gott den
Menschen so arm, so ist Gott sein eigenes Werk empfangend und ist eine Eigenstätte
seiner Werke damit, dass Gott ein Wirken in sich selbst ist. Allhier erlangt der
Mensch in dieser Armut das ewige Wesen, das er gewesen ist und das er jetzt ist und
das er in Ewigkeit leben soll.
Daher sagen wir, dass der Mensch arm dastehen soll, dass er kein Raum sein und
keinen haben soll, worin Gott wirken könne. Wenn der Mensch einen Raum behält,
dann behält er Unterschiedenheit. Darum bitte ich Gott, dass er mich Gottes quitt
mache, denn unwesenhaftes Wesen und Sein ohne Dasein ist über Gott und über
Unterschiedenheit; da war ich selbst, da wollte ich mich selbst und erkannte mich selbst
diesen Menschen machend, und darum bin ich Ursache [110] meiner selbst nach
meinem Wesen, das ewig ist, und nach meinem Wesen, das zeitlich ist. Und darum bin
ich geboren und kann nach der Weise meiner Geburt, die ewig ist, niemals ersterben.
Nach der Weise meiner ewigen Geburt bin ich ewiglich gewesen und bin jetzt und soll
ewiglich bleiben. Was ich nach der Zeit bin, das soll sterben und soll zunichte werden,
denn es ist des Tages; darum muss es mit der Zeit verderben. In meiner Geburt
wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge, und
wollte ich, so wäre ich nicht noch alle Dinge, und wäre ich nicht, so wäre Gott nicht.
Es ist nicht nötig, dies zu verstehen.
Ein grosser Meister sagt, sein Münden stünde höher als sein Entspringen. Als ich
aus Gott entsprang, da sprachen alle Dinge: Gott ist da. Nun kann mich das nicht selig
machen, denn hier erkenne ich als Kreatur; dagegen in dem Münden, wo ich ledig stehen
will im Willen Gottes, und ledig stehn des Willens Gottes und aller seiner Werke und
Gottes selbst, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder Gott noch Kreatur,
sondern ich bin was ich war und was ich bleiben soll jetzt und immerdar. Da erhalte ich
einen Ruck, der mich über alle Engel schwingen soll. Von diesem Ruck empfange ich so
reiche Fülle, dass mir Gott nicht genug sein kann mit alledem, [111] was er Gott ist,
mit all seinen göttlichen Werken, denn mir wird in diesem Münden zu teil, dass ich und
Gott eins sind. Da bin ich was ich war, und da nehme ich weder ab noch zu, denn ich
bin da eine unbewegliche Ur-Sache, die alle Dinge bewegt. Allhier findet Gott keine
Stätte im Menschen, denn der Mensch erlangt mit seiner Armut, dass er ewiglich
gewesen ist und immer bleiben soll. Allhier ist Gott im Geist eins, und das ist die
tiefste Armut, die man finden kann.
Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der
Mensch dieser Wahrheit nicht gewachsen ist, so lange wird er diese Rede nicht
verstehen, denn es ist eine Wahrheit, die nicht ausgedacht ist, sondern unmittelbar
gekommen aus dem Herzen Gottes. Dass wir so leben mögen, dass wir es ewig
empfinden, das walte Gott. Amen